Philosopher Maria Tatari Reflects on Narkosis

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R E V I E W – Narkosis

Narkosis ist eine Raumchoreographie von Moritz Majce und Sandra Man, gezeigt von 2.-5.11.2017 im Rahmen des Open Spaces Festivals der Tanzfabrik Berlin. Die Arbeit basiert auf dem Mythos von Narziss und Echo aus den Metamorphosen von Ovid. Sie ist auf http://www.moritzmajcesandraman.com/narkosis dokumentiert.

Narkosis – Plastizität der Gegenwart

Marita Tatari

Wie ein unsichtbarer Sog richtet sich Narkosis an einen Punkt in uns, der innen und außen, Ich und Du zugleich ist. An dem Ich und Du der Zug einer Verbindung ist, aus der Zeit entspringt und Raum hervorgeht. Narkosis ist eine Versenkung in den relationalen Trieb, aus dem heraus Oberflächen entstehen, ein Eintauchen in die Kraft des Bezugs, aus der Realität hervortritt. Narkosis siedelt an der untersten Schicht des gegenwärtigen Moments, der Schicht des Erwachens der Gegenwart.

Der Stoff des dramatischen Theaters waren Geschichten und Handlungen und der Stoff des performativen Theaters war das Miteinander des gegenwärtigen Moments. In dieser Arbeit geht es nun um eine Erfahrung, die in den Fluss der Kräfte eintaucht, aus dem heraus das geteilte Moment eines Jetzt und eines Raums selbst entsteht. Dieser Fluss ist die Konzentration einer Hingabe, der Sog einer Adresse, einer Ansprache, die Kraft eines sich-Beziehens, die uns die Gegenwart genau an der Fläche ihrer Formbarkeit, ihrer Plastizität darbietet. Woran wir teilnehmen, wenn wir an diesem „Spektakel“, an dem Abend und Zustand namens Narkosis teilnehmen, ist diese Plastizität der Gegenwart. Wir setzen uns der Fläche aus, die nicht gegeben ist, sondern sich formt und umformt in den Wellen des sich-Beziehens und zwar genau an dem Punkt ihres Hervortretens. So nah am Punkt ihres Hervortretens, dass nur Mikrobewegungen, Fragmente von Bezügen an die Oberfläche der Sichtbarkeit gelangen, keine ganzen Gestalten.

In zwei Teilen nimmt uns Narkosis in diese Versenkung mit, die Arbeit zieht uns mit im Sog dieses sich-Beziehens, aus dem heraus minimal die Flächen skandiert werden und eine flüssige Wirklichkeit dem Dämmerlicht ihres Erscheinens selbst übergeben wird.

Der erste Teil des Abends ist eine Meditation zum Raum, zur Zusammensetzung und Umformung von Elementen. Auf den beiden Leinwänden an der Längsachse des Raums schauen von Anfang an zwei Augen ins Zentrum und thematisieren das Sehen im Theater: Ledoux’ Theater von Besançon und Magrittes Der falsche Spiegel. Zwischen diesen Augen, in der Mitte des Raums, treffen einander das Publikum und der Chor und nehmen Platz, der Chor auf Drehstühlen. Die ZuschauerInnen sitzen um den Chor herum, der Mittelpunkt und Schnittstelle ist, Raum und Sehen zugleich, durch Blicke, die vom Chor aus in alle Richtungen ins Publikum gehen. Bei diesen Blicken des Chors geht es aber nicht primär um ein Ansehen. Es geht um ein über-sich-Hinausgehen als beim-Anderen-sein, wobei ein Anderes im Anderen adressiert wird. Denn wenn der Chor, sich kontinuierlich langsam drehend, intensiv in die Augen der ZuschauerInnen blickt, handelt es sich weder um eine interpersonale Beziehung noch um eine Verschmelzung von Ich und Du. Nicht ich werde von einem Du adressiert, sondern ein Offenes in mir wird von einem Offenen in dir heraus adressiert. In diesen Blicken zwischen Chor und Publikum liegt ein gemeinsam-das-Offene-frei-Halten; es geht darum, sich mit anderen einem Offenen hinzugeben, sich an diesem Punkt zu treffen, der in der Beziehung weder Ich noch Du ist, weder der eine noch der andere, sondern der Freilauf des Bezugs selbst: der liebende Trieb, beim Offenen im Anderen zu sein, gemeinsam diesen offenen Punkt als Raum zu tragen und offen zu halten.

Im zweiten Teil von Narkosis ändert sich die Anordnung: Ein einzelner Tänzer ist im Zentrum, nackt und am Boden, das Publikum ist um ihn herum, ebenfalls am Boden, der Raum ist dunkel, das wenige Licht auf den Tänzer gerichtet. Ein von Caravaggios Narziss-Bild inspiriertes Tanzsolo beginnt und ein Sprechen im Off setzt ein. Es ist eine Stimme, die ein Du adressiert, ein unbestimmtes Du: „Ich sehe Dich an“. Eine liebende Stimme, eine Stimme in Anbetung, die die Fläche eines Körpers ertastet, der kein Ganzes formt. Eine Stimme, die auf Teile einer Körperoberfläche zoomt, indem sie ein unbestimmtes, offenes Du in ihnen anspricht. Aus dem Caravaggio-Narziss-Bild tritt ein solches offenes Du hervor, aus dem Caravaggio-Bild nämlich, das sich mitten im dunklen Raum als minimales Tanzsolo des nackten Narziss in seinem Chiaroscuro vergegenwärtigt. Narziss, wie er sich im Bild in der Seeoberfläche spiegelt, wird zur Handlung, er wird zu Mikrobewegungen in Licht und Dauer, Langsamkeit; das Tanzsolo ist eine Mikrohandlung, die deswegen auf Narziss verweist, weil es um einen Selbstbezug geht und um den Anderen, der aus und in diesem Selbstbezug hervortritt: Als wahrnehmbare Oberfläche, dort, wo sich durch Dunkelheit, Licht und Schatten die Relationalität am Rand eines Erscheinens verdichtet und ausstellt. Eine frei hervortretende Oberfläche, ein Anderes im Selbstbezug, offen dargeboten. Dieser Narziss hat nichts mit Narzissmus zu tun, sondern mit der Praxis eines sich-Beziehens, eines sich-auf-sich-Beziehens und eines sich-auf-andere-Beziehens, das sich an das richtet, was im Bezug selbst ein unbestimmtes Du ist und damit das, was den Gang oder Zug des sich-Beziehens ermöglicht, ihn offen und freihält. Ein freies Scheinen, das die Schönheit ist; sie geht über das Bild hinaus in einen Tanz über, in dem Innen und Außen im Körper atmet, Innen als Außen, Außen als Innen. Während des Tanzsolos kommen Naturaufnahmen auf die Projektionsleinwände, es sind zwei Videos von einem See, einmal horizontal und sehr ruhig, einmal vertikal mit einer Drohne gefilmt und bewegt. Während sich im Tanzsolo der Abstand zwischen Bild und Tanz öffnet, blickt aus den Seevideos ein Außen auf uns, ruft uns ein weiteres Außen als Natur.

Zwischen Hören und Sehen überlässt man sich in dieser Arbeit als ZuschauerIn, ZuhörerIn und BetrachterIn zugleich einem Zug, der die Anziehung ist, uns einem Anderen hinzugeben, uns ihm in uns hinzugeben, tief unter der Oberfläche – Narkosis – und aus ihm heraus wieder an die Oberfläche zu kommen, genau am Ort ihres Aufscheinens: Dort, wo zwei Hände oder eine Hand und ein Fuß sich im Vakuum berühren, dort, wo sie hervortreten, wie in dem am Ende des Stücks gezeigten Film, der auf die beiden Leinwände verteilt in einem weißen Raum Gliedmaßen tanzen lässt. Ohne Gesicht, ohne Eingeweide sind es Arme, Hände, Beine, Füße, die immer wieder auftauchen und dazwischen im Raum verstreut wir als Zuhörende, Zuschauende, bis der Satz „Ich bin von mir selber betäubt“ das Stück schließt.

Fern davon, Narzissmus anzuklagen, geben wir uns an diesem Abend einem unbestimmten und unbestimmbaren Anderen hin. Denn das macht die Radikalität dieses Stücks aus: Statt die Normativität zu bekämpfen, die Normativität, die uns eine bestimmte Einteilung der Welt aufzwingt, diese ungerechte Verteilung, an der wir teilhaben, verlassen wir vielmehr unseren normativ geschulten Zugang zur Welt. Diese Arbeit ist radikal, weil sie, statt unserer normierten Wahrnehmung Inhalte und Bilder vorzuführen, vielmehr in unsere Wahrnehmung eingreift und sie auf eine ihr zugrundeliegende Plastizität zurückführt, auf die keine Normativität Zugriff haben kann.

Ohne den geringsten Gestus eines Anprangerns gegen eine gegebene Ordnung der Welt taucht Narkosis unter die Ebene der Inhalte, unter die Ebene dessen, was oder wer gezeigt wird, bis zu der „Stelle, an der sich das Auge in seiner Höhle dreht“. Das ist nicht bloß eine Meditation über das Sehen. Es schafft den Raum, in dem uns für die Dauer eines Abends die Praxis eines Zusammenseins anstecken kann, dem jede gegebene und jede normative Ordnung zutiefst und wesentlich widersteht. Ohne gegen etwas gerichtet zu sein, richtet sich das Stück an das Offene in uns, zwischen uns und nimmt uns mit, es gemeinsam zu tragen.

Zur Person: Marita Tatari promovierte mit einer Arbeit über Heidegger bei Jean-Luc Nancy in Strasbourg und habilitierte sich 2017 im Fach Theaterwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum. Ab 2018 forscht sie an der Universität Berkeley. Ihre Schwerpunkte sind Geschichte und Gegenwart der Kunst unter technologischen Bedingungen und Philosophische Ästhetik nach der Dekonstruktion. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit geschichtsteleologischer Determiniertheit vorherrschender ästhetischer Kategorien und Perspektiven der Theaterwissenschaft auseinander, um so einen anderen Zugang sowohl zum einzelnen Kunstwerk als auch zur Geschichte der Kunst zu eröffnen. Sie hat mehrere Bücher zu Theater, Tanz, Performance veröffentlicht, darunter Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie (Diaphanes 2014) und Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme (Fink 2017).

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